Kampf hinter Gittern»Knast-Anwälte«Interview mitMumia Abu-Jamal
30.9.2019
Kaum jemand kennt das so gut wie Michael Schiffmann. Der Anglistikdozent veröffentlichte bereits 2006 sein Buch „Wettlauf gegen den Tod. Mumia Abu¬Jamal: ein schwarzer Revolutionär im weißen Amerika“ im Promedia Verlag und besuchte wiederholt die USA sowie Mumia und dessen Freund*innen. Für unser bundesweites Free¬Mumia¬Netzwerk stellte er Mumia diese Interviewfragen zu Jailhouse Lawyers / Knastanwälten.
Knastanwälte sind normalerweise keine „echten“ Juristen. Einer der berühmtesten Nicht-Anwälte, der einen Prozess gewonnen hat, war der MOVE-Gründer John Africa, gemeinsam mit Mo Africa. Wie hat er das geschafft? Du warst damals als Journalist Prozessbeobachter in dem Verfahren – hat das zu deiner Entscheidung beigetragen, dich in deinem eigenen Verfahren selbst zu verteidigen? Wie John Africa das geschafft hat? Mit seinem AbschlussPlädoyer, auf das er seine gesamte Energie verwandt hat. Er sprach sehr lang, so lange, bis er eine Beziehung zu den Geschworenen hergestellt hatte. Und ob er mich beeinflusst hat? Wie hätte es anders sein können! Es war eines der erstaunlichsten Erlebnisse, die ich je hatte.
Der französische Schriftsteller Anatole France hat einmal gesagt, das Gesetz in seiner majestätischen Größe verbiete sowohl den Reichen als auch den Armen, unter der sprichwörtlichen Brücke zu schlafen. Wie sehen Sie das – ist das Gesetz nur ein Knüppel zur Knechtung der Armen im Dienst der Reichen und Mächtigen, alles natürlich im Namen der „Gleichheit“? Das Gesetz schafft ökonomische Beziehungen, durch die die Armen niedergewalzt werden. Und wenn es dann um die Armen unter den Schwarzen geht, ist das Resultat totale Tyrannei, was man nicht zuletzt am monströsen Ausmaß der Masseneinkerkerung sehen kann.
Wieviel Erfolg haben Knastanwälte beim Durchfechten ihrer eigenen Fälle? Kannst du uns ein paar Fälle von Gefangenen im Todestrakt oder „Lebenslänglichen“ nennen, die ihre Fälle gewonnen haben, deren Strafmaß heruntergesetzt wurde oder die sogar freikamen? Und wie erfolgreich waren diese Anwälte darin, die Fälle von anderen zu gewinnen? Allgemein kann man sagen, dass Knastanwälte wahrscheinlich mehr Fälle verlieren als gewinnen. Aber es gibt natürlich Ausnahmen von dieser Regel. Je talentierter die fragliche Person, desto besser die Ergebnisse. Jemand wie Mayberry zum Beispiel gewinnt schätzungsweise 70 Prozent seiner Fälle. Was die eigenen Fälle angeht – da denke ich, dass das eher selten vorkommt, auch wenn es nicht unmöglich ist. Harold Wilson erreichte im Fall seines Todesurteils ein neues Verfahren, nachdem er beweisen konnte, dass sein Prozess gegen die Batson-Bestimmung verstoßen hatte. Im neuen Verfahren erreichte er aufgrund von DNA¬Beweisen einen Freispruch.
Nochmal zu dir: Judge Sabo hat dir erfolgreich das Recht zur Selbstverteidigung entzogen und Anthony Jackson zu deinem „Anwalt“ ernannt. Hattest du damals während deines Verfahrens eigene Kopien aller Akten zur Verfügung? Und war es nicht sehr schwierig, ständig alle Details und Zeugenaussagen im Kopf zu behalten und nicht den Gesamtüberblick zu verlieren? Nein. Ich hatte nicht alle Akten. Anthony Jackson hat mir einige gegeben, aber nicht alle. Ich war im Grunde total auf mich allein gestellt. Ich musste zwischen Akten und Erinnerung jonglieren und damit, so gut ich eben konnte, in die Schlacht gehen.
Du hast ja über die Jahre einige Mitglieder der Gemeinschaft der Knastanwälte getroffen. Viele sind nach wie vor im Gefängnis, einige sind draußen – bist du mit einigen von ihnen noch in Kontakt? Was ist das wichtigste, was du von ihnen gelernt hast und gibt es da vielleicht ein, zwei Dinge, die du ihnen beibringen konntest? Immer mal wieder, natürlich, aber die meisten Knastanwälte lesen die Urteilsbegründungen, die als Ergebnis der Arbeit anderer Knastanwälte gefällt werden, denn in Wirklichkeit sind es Urteilsbegründungen, die das konkrete Aussehen des Gesetzes bestimmen und es dann für andere Knastanwälte nützlich machen können. Das ist es eigentlich, was andere Knastanwälte inspiriert.
Wie siehst du die Unterscheidung zwischen „politischen Gefangenen“ und „normalen Gefangenen“ alias „Kriminellen“? Gibt es Leute, von denen du denkst, sie sollten eingesperrt sein oder davon abgehalten werden, sich frei in der Gesellschaft zu bewegen? Könnte das Strafgesetz entkriminalisiert und durch Regeln und Bestimmungen der jeweiligen Gemeinschaften ersetzt werden? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Ich denke, das hängt vor allem davon ab, wie man das Gesetz sieht und wie das Gesetz die Menschen sieht. Was die Gefängnisse angeht, fragt niemand, warum die USA eine so wütende Haltung gegenüber ihren Gefangenen einnehmen, während andere Länder da eine ganz andere Sichtweise haben. Ich habe viele Arbeiten der großartigen Abolitionistin Angela Davis gelesen, die nicht nur für die Abschaffung der Gefängnisse eintritt, sondern gleichzeitig auch für ihre Umwandlung in lernende Gemeinschaften. Ich stimme ihr da fast instinktiv zu. Außerdem weiß ich aus eigener Erfahrung, dass Gefängnisse Menschen schweren Schaden zufügen, dass sie in den allermeisten Fällen notorisch gegenüber ihrem angeblichen Zweck versagen und nicht nur den Insassen, sondern auch den Gemeinschaften schaden, aus denen diese kommen. Sie funktionieren ganz einfach nicht.
Hintergrund • Der „afroamerikanische Journalist“ Mumia Schon in der Ära Nixon fällt der junge Journalist als Pressesprecher des Black Panther Chapter Philadelphia und als Radioreporter auf, wird durch seine kritischen Reportagen zu Rassismus und Polizeibrutalität bei den Unterdrückten als „Voice of the Voiceless“ bekannt und damit der Obrigkeit ein „Dorn im Auge“.
• Der Kriminalfall Mumia Am 9. Dezember 1981 gibt es um vier Uhr morgens auf den Straßen Philadelphias eine „Verkehrskontrolle“. Mumias Bruder Bill wird angehalten und aus seinem Auto gezerrt. Mumia fährt Taxi, kommt zufällig vorbei, rennt hinzu. Am Schluss ist der Polizist Daniel Faulkner tot und Mumia schwer verletzt ¬ angeschossen und von den Tatort¬Polizisten schwer zusammengeschlagen.
• Mumias Prozess Am 3. Juni 1982 wird Mumia zum Tod verurteilt ¬ nach einem Prozess, den Beobachter als „grotesk unfair“ bezeichneten. Rassistisch handverlesene Geschworene, ein Richter, der helfen will, „den Nigger zu grillen“, Einschränkung der Verteidigungsrechte, Zeugenbeeinflussung, Rechtsbeugung in der Beweisaufnahme … Es folgen zwei Hinrichtungstermine 1995 und 1999. Amnesty International widmet Abu¬Jamals Fall 2000 einen eigenen Report, der den Prozess und die bis dahin gelaufenen Berufungsverfahren scharf kritisiert und ein neues, faires Verfahren fordert. Darauf warten wir bis heute.
• Die Free-Mumia-Kampagne Prominente wie Nelson Mandela, Desmond Tutu, Michelle Mitterand, Gerhard Baum sind Teil der weltweiten Kampagne, ebenso der PEN Club, ver.di und die dju. Mumia wird Ehrenbürger von Paris, Mitglied von PEN Deutschland, Ehrenmitglied der dju und es gibt Resolutionen zahlloser Stadt¬ und Landesparlamente. Seit 2001 ist die Todesstrafe aufgehoben, erlangt aber erst 10 Jahre später Rechtskraft. So lange muss Mumia weiter im Todestrakt bleiben. Das Urteil wird in lebenlange Haft umgewandelt. Lebenslänglich begraben. Slow Death Row.
• 38 Jahre Gefängnis Der Kampf um Mumias Leben geht weiter. Mumia wird 2015 schwer krank – eine seit der Verhaftung verschleppte Hepatitis¬C¬Infektion bringt ihn an den Rand des Todes. Die notwendige und mögliche Behandlung muss zäh erstritten werden und findet erst 2017 statt. Ein schwerer Leberschaden bleibt zurück. Diabetes durch Mangelernährung und Bewegungsmangel. Hauterkrankungen durch Mangel an Luft und Licht. Und nun schwere Sehbeeinträchtigungen, die bei Nichtbehandlung zur Erblindung führen werden.
• Eine Entscheidung steht an Mumias Freiheit ist ein medizinisches Gebot. Gleichzeitig gibt es erstmals wirklich Aussicht auf das ewig ausstehende neue Verfahren. Im Dezember 2018 hat ein Revisionskontrollgericht Mumias Berufungsrechte in Kraft gesetzt. Es KÖNNTE ein faires Verfahren geben. Wir bleiben dran! Wir haben mit Bewunderung erlebt, wie ein Mensch aus der Todeszelle den Kampf um Freiheit weiterführt, 10 Bücher veröffentlicht und durch wöchentliche Kolumnen präsent bleibt. Nachdem er auf diese Weise ständig bei uns war, ist es endlich Zeit, ihn persönlich und in Freiheit in unserer Mitte willkommen zu heißen.
Ein Interview von Michael Schiffmann